Forschende entwickeln neue Methode, mit der sie bisher verborgene genetische Verwandtschaften in Tierpopulationen ermitteln können
News vom 20.01.2025
Die Kenntnis biologischer Verwandtschaftsverhältnisse ist für die Erforschung von Wildtierpopulationen oft entscheidend. Ein internationales Team unter Leitung der Universität Leipzig, des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Freien Universität Berlin ist es gelungen, DNA-Abschnitte zu identifizieren, die jeweils zwei Individuen von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben und diesen neuen Ansatz auf eine Population von freilebenden Rhesusaffen anzuwenden. So konnten die Forschenden die Verwandtschaftsverhältnisse auch mit Sequenzierungsdaten von geringer Qualität und ohne Stammbäume der Population genau bestimmen. Dieser Durchbruch wird es in Zukunft ermöglichen, bisher unbekannte verwandte Paare aufzuspüren und somit wertvolle Informationen über die Struktur von Wildtierpopulationen zu gewinnen.
Die Bestimmung, welche Individuen innerhalb einer Population genetisches Material von gemeinsamen Vorfahren teilen, also biologisch miteinander verwandt sind, spielt in vielen wissenschaftlichen Disziplinen eine zentrale Rolle, insbesondere in der Verhaltensforschung an Tieren, der Naturschutzbiologie und der genetischen Evolutionsforschung. Ursprünglich wurden Stammbäume verwendet, um diese paarweisen Beziehungen darzustellen, aber die damit verbundenen Einschränkungen machten genauere Methoden erforderlich.
Jüngste technologische Fortschritte haben diese Entwicklung erheblich beschleunigt. Gentests und die Analyse genetischer Marker, so genannter Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs), die individuelle Variation in DNA-Sequenzdaten darstellen, können Forschenden helfen, direkt auf biologische Verwandtschaft zu schließen.
Neue leistungsfähige Methode identifiziert verwandte Paare
Das internationale Forschungsteam hat nun eine Bioinformatik-Methode entwickelt, die neue Möglichkeiten zur Schätzung der genetischen Verwandtschaft in Tierpopulationen eröffnet. Sie analysiert Sequenzdaten, die das gesamte Genom repräsentieren, und erzielt dabei präzise Resultate, selbst wenn die Sequenzdaten von geringer Qualität sind. „Unser Tool öffnet Disziplinen wie der Ökologie und der Evolutionsforschung die Tür zu einem weit genaueren Verständnis genetischer Verwandtschaftsbeziehungen. Es identifiziert identische DNA-Fragmente, die Paare teilen und die von einem gemeinsamen Vorfahren stammen. Diese so genannten Identity by Descent- oder IBD-Segmente sind ein extrem genaues Signal, um biologische Verwandtschaften zu erkennen und zu quantifizieren. Bisher waren solche Methoden nur für qualitativ hochwertige Humangenome verfügbar. Jetzt können wir sie auch auf Tiergenome anwenden“, sagt einer der leitenden Autoren der Studie, Harald Ringbauer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Abweichungen von der tatsächlichen Verwandtschaft in einer Makaken-Population
Um die neue Methode weiterzuentwickeln und zu testen, wandte das Team die Methode auf eine Population freilebender Rhesusaffen auf Cayo Santiago, Puerto Rico, an und erzielte deutlich genauere Ergebnisse als mit früheren Methoden. Während konventionelle Methoden Verwandtschaftsbeziehungen anhand von diskreten Kategorien bewerten, kann diese Methode den kontinuierlichen Charakter von Verwandtschaft präzise darstellen. Darüber hinaus fand das Team mehr gemeinsame genetische Abstammung als erwartet, was auf bisher unentdeckte Verwandte innerhalb der Population hindeutet. „Die Anwendung unserer IBD-Methode auf eine freilebende Primatenpopulation zeigt, dass sie detailliertere Verwandtschaftsinformationen liefert als traditionelle Stammbäume oder bisherige genetische Schätzungen“, sagt Erstautorin Annika Freudiger von der Universität Leipzig und dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. „Damit öffnen wir auch die Tür für weitere spannende Studien zu Verwandtschaftsbeziehungen in natürlichen Populationen und zur Untersuchung genetischer Biodiversität.“, betont die Humanbiologin der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Katja Nowick, die ebenfalls eine der Seniorautor*innen ist. Dr. Vladimir Jovanovic vom Institut für Biologie der FU Berlin war als Bioinformatiker wesentlich an der Studie beteiligt.
Die Forscherinnen und Forscher stellten außerdem fest, dass es Abweichungen gab, bei denen die tatsächliche genetische Abstammung höher war als anhand der Stammbäume vorhergesagt. Diese Abweichungen deuten darauf hin, dass die gemeinsame Abstammung aufgrund der unvollständigen Erfassung der Verwandtschaftsbeziehungen im Stammbaum bisher unterschätzt wurde. Auch bei der genetischen Rekombinationsrate zwischen den Geschlechtern stellten die Forschenden deutliche Unterschiede fest. Dies könnte Aufschluss über das Geschlecht unbekannter Vorfahren geben und darüber, ob Dyaden über die mütterliche oder die väterliche Linie miteinander verwandt sind.
Cayo Santiago: Datenerhebung seit 1956
Die Studie wurde auf Cayo Santiago durchgeführt, einer kleinen Insel vor der Küste Puerto Ricos, die vom Caribbean Primate Research Center verwaltet wird. Die seit 1956 kontinuierlich durchgeführte Sammlung demographischer und genetischer Daten ermöglichte es den Forschenden, die neue Methode an einer freilebenden Population zu testen, für die seit mehreren Jahrzehnten umfassende Stammbäume vorliegen. Dadurch konnten neue Erkenntnisse über diese Studienpopulation gewonnen werden. Trotz der anhaltenden genetischen Isolation der Population ist der Inzuchtgrad überraschend niedrig, was möglicherweise auf geschlechtsspezifische Abwanderung und/oder effektive Verwandtenerkennung zurückzuführen ist.
„Mit diesem innovativen Werkzeug können wir die kontinuierliche Verteilung von Verwandtschaftsbeziehungen in Tierpopulationen genau messen, selbst wenn die Sequenzierungsdaten von relativ geringer Qualität sind. Dies könnte dazu beitragen, ökologische und evolutionäre Muster bei sozialen Tieren besser zu verstehen“, sagt die leitende Autorin Anja Widdig von der Universität Leipzig und dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Diese Studie zeigt das Potenzial neuer, fortschrittlicher Methoden für ein besseres Verständnis der biologischen Verwandtschaft von Arten und Populationen. Dies wird zu neuen Erkenntnissen über Familienstrukturen und Verhaltenspräferenzen führen, die bisher weitgehend unklar waren.
Weitere Informationen
- Die Studie „Estimating realized relatedness in free-ranging macaques by inferring identity-by-descent segments” ist abrufbar unter: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2401106122
Kontakt
- Prof. Dr. Katja Nowick: Freie Universität Berlin, Institut für Biologie, E-Mail: Katja.nowick@fu-berlin.de
(Der Text basiert auf einer Pressemitteilung der Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, Leipzig)