Experimentelle Evolution
Experimentelle Evolution von Biokatalysatoren, Stoffwechselwegen und Organismen in vivo
Zur experimentellen Evolution von Organismen, Zellen und Enzymen werden überwiegend ex vivo Techniken eingesetzt. Dabei wird mit molekularbiologischen Methoden die Information für Proteinmoleküle aus einem Organismus isoliert, im Reagenzglas chemisch verändert und dann wieder in einen Organismus eingebracht, wo sie für die Produktion veränderter Proteine sorgen kann. So entstandene Varianten werden isoliert und mit mikrobiologischen oder enzymatischen Analysen für gewünschte Änderungen gescreent. In vitro Ansätze sind durch die Kombinatorik zu erzeugender Variationen limitiert. Hoher Arbeits- und Kostenaufwand für die molekularbiologischen Arbeiten und die Konstruktion und Durchführung funktioneller Screens sind weitere kritische Faktoren.
Wir haben eine automatisierte Kulturtechnologie entwickelt, welche die Proliferation von Zellen in Suspension unter strikt kontrollierten selektiven Bedingungen über unbegrenzte Zeiträume erlaubt (Marlière, Mutzel: Pat. DE29821682U1 und internationale Patente). Unsere Vorrichtung ist ein "Fluidics Device" von ähnlicher Komplexität wie ein DNA- oder Peptid-Synthesizer. Ihre Funktionsweise stellt sicher, daß (i) eine Population von Zellen in Suspension zu jedem Zeitpunkt erhalten bleibt und (ii) residente, adaptiv statische Zellen, die in irgendeinem Teil der Apparatur verbleiben oder an Oberflächen haften, vollständig zerstört werden. Statische Varianten waren bislang das prinzipielle Hindernis der permanenten Proliferation von Zellen in Chemostaten oder Turbidostaten. Dies wird durch unser Verfahren vollständig ausgeschlossen.
Wir können ein Regime konstanter Zelldichte (Turbidostat) über unbegrenzte Zeiträume (Jahre) aufrechterhalten und unter strikt kontrollierten selektiven Bedingungen die Wachstumsrate von Zellen erhöhen. Als evolvierendes genetisches Material können gesamte Genome von Organismen, isolierte Teile von Genomen auf Vektoren, gentechnisch veränderte Versionen natürlicher Gene, synthetische Gene oder kombinatorische Sequenzbibliotheken verwendet werden. Beispiele für Anwendungen sind die Isolierung, Anreicherung und Verbesserung natürlicher Varianten oder gentechnisch erzeugter Stämme, die ein chemisches Produkt (z.B. ein Zwischenprodukt chemischer Synthese oder ein Umweltgift) metabolisieren können, die gerichtete Verbesserung von Enzymen oder Stoffwechselwegen oder die Adaptation von Zellen an physikalische, chemische oder biologische Stresssituationen (de Crécy-Lagard, Bellalou, Mutzel, Marlière: BMC Biotechnology 2001,1 :10).
Im Gegensatz zu klassischen Chemostat- oder Turbidostatexperimenten (bei denen residente Subpopulationen unbekannter Eigenschaften und Größe selektioniert und konserviert werden) oder zur seriellen Subkultur (bei der Populationen evolvierender Zellen periodisch durch lag-, logarithmische und stationäre Phasen sowie in jedem Zyklus durch einen "Flaschenhals" kleiner Individuenzahlen gehen) sind Adaptationsprozesse in kontinuierlichen Kulturen großer Populationen homogen suspendierter Zellen mathematisch vollständig und exakt beschreibbar und genetische Veränderungen können mit prinzipiell beliebiger Genauigkeit analysiert werden.
In der 3sat-Sendung "scobel" vom 24. November 2011 (http://www.3sat.de/page/?source=/scobel/158528/index.html) gibt es dazu auch Stellungnahmen von Prof. Mutzel.